Zeitalter des urbanen Dorfes

Steve Teruggi von Winkreative spricht darüber, wie kleine Bezirke grosse Städte prägen.

Warum sollte man in einer Grossstadt leben wollen? In der Theorie gibt es zahlreiche Nachteile. Verkehrsstaus, Kri­min­alität, Immobilienpreise – und all dies wird mit zunehmendem Wachstum unserer wichtigsten Städte weiter ansteigen. Und doch lieben wir sie. Trotz all dieser Nach­­­teile bietet das Leben in Grossstädten vielfältige Mög­lich­­keiten und Gelegenheiten, eine gute Zeit zu verbringen. Besuchen Sie für einen optimistischen Blick auf die Stadt doch einfach mal Ihr urbanes Dorf vor Ort.

Jede Stadt, ob Tokio oder Toronto, hat sie: kompakte Stadtteile, einige davon nicht grösser als ein Block, mit einem einzigartigen Charakter und einer einmaligen lokalen Kultur. In einem urbanen Dorf sind die Menschen und Erlebnisse nicht nur ‚authentisch‘, sie sind real. Durch Beobachtung der täglichen Gewohnheiten und Eigen­­arten der Bewohner vor Ort gewinnen wir einen besseren Eindruck vom Leben in einer Stadt als durch das Lesen eines Reiseführers. Bestenfalls liefern urbane Dörfer einen besseren menschlichen und persönlichen Eindruck als das erdrückende Wesen der ganzen Stadt.

Warum ein Viertel unser Herz erobert, während uns ein anderes kalt lässt, ist von den Geschichten abhängig, die für uns greifbar sind. Ein Ort braucht eine überzeugende Vision, die jeder sofort verstehen kann. Manchmal entwickelt sich eine Vision ganz von alleine, allerdings kann sie auch aktiv gestaltet werden.

Das Baker-Street-Viertel in London ist eine von immer mehr Immobilien- und Standortgemeinschaften (ISG) in Städten weltweit. In dieser ISG sind lokale Händler, Mieter und Eigentümer im Rahmen einer nicht kommerziellen Partnerschaft vertreten, die gemeinsame Interessen verfolgt und die Vision des Gebiets steuert. Die attraktive Lage und das kulturelle Erbe des Viertels sorgen für einen Mix aus grosszügig angelegten Büros und ruhigen Seiten­strassen, in denen unabhängige Einzelhandels­geschäfte, Restaurants, Cafés und Hotels eine Atmosphäre schaffen, die so ganz anders ist als in der Oxford Street mit ihren Mainstream-Marken.

Eine Gemeinschaft kann ebenfalls die Atmosphäre
eines Orts prägen, indem sie immer öfter über soziale Medien Informationen austauscht und Kontakte knüpft. Alleine New York hat über 1800 von Nextdoor.com betriebene Nachbarschafts-Microsites, die die Anwohner für die unterschiedlichsten Zwecke nutzen können, von der Kommunikation mit dem Bürgermeister bis hin zur Meldung eines entlaufenen Hundes.

Manchmal steuern visionäre Einzelpersonen oder Entwickler die Schaffung eines urbanen Dorfes. In Daikanyama, einem der attraktivsten Viertel von Tokio, befindet sich die Hillside Terrace. Dieser akkurate
und kompakte Komplex von Fumihiko Maki liegt zwischen ruhigen Umgebungsstrassen, in denen sich fantasievolle Einzelhandelsgeschäfte und kleine Unternehmen
niedergelassen haben.

„In einem urbanen Dorf sind die
Menschen und Erlebnisse nicht nur ‘authentisch’, sie sind real.“

Wir dürfen uns jedoch nicht nur auf die Stadtzentren konzentrieren. Letztes Jahr haben wir hauptsächlich an Projekten des öffentlichen Verkehrswesens in Toronto gearbeitet, bei denen besonders auf das Verhältnis zwischen Stadtvierteln und Vororten geachtet werden musste. Ich persönlich habe Zentrallondon gegen ein Einfamilienhaus in einem Dorf namens Amersham eingetauscht, das am äussersten Rand des U-Bahn-Netzes liegt. Das Gemein-schaftsgefühl dort spürt man sofort. Wir kennen die Namen der Ladenbesitzer, erkennen die Menschen in der Lokalzeitung und sprechen am Schultor mit anderen Eltern über die Entwicklung des Dorfes.

Da die Städte immer weiter wachsen und die Hoch­ge­schwindigkeitsbahnnetze immer weiter ausgebaut werden, werden die Gegenden, die derzeit noch im länd­lichen Hin­ter­­­land etablierter oder aufstrebender Gebiete liegen, wahrscheinlich sehr schnell von der Urbanisierung erfasst und müssen sich den Herausforderungen stellen, die mit den heutigen Städten verbunden sind. Ich bin gespannt, welche unvermeidbare Rolle das Design spielen wird, wenn Dörfer wie meines sich zu den grossstädtischen Mikro­nach­barschaften der Zukunft entwickeln.